Das Zuckerschild des Gehirns: Haben wir den Schlüssel zum Verständnis des Alterns gefunden?

Forscher haben sich bei der Ursachenforschung zu kognitivem Verfall und neurodegenerativen Erkrankungen lange auf Proteine und DNA fokussiert. Nun haben US-Wissenschaftler erstmals die Rolle von Zuckerketten untersucht.

Zuckerperlen
Die Glykokalyx ist die Außenmembran von Zellen. Sie enthält Zuckermoleküle, die eine wichtige Rolle bei der Zellalterung spielen könnten. Bild: Alexander Grey/Unsplash
Lisa Seyde
Lisa Seyde Meteored Deutschland 5 min

Neue Forschungsergebnisse aus Stanford liefern Hinweise darauf, dass das sogenannte Zuckerschild des Gehirns – die sogenannte Glykokalyx – eine entscheidende Rolle beim kognitiven Verfall und bei neurodegenerativen Erkrankungen wie Alzheimer spielen könnte. Ein interdisziplinäres Team von US-Wissenschaftlern hat herausgefunden, dass altersbedingte Veränderungen in dieser schützenden Zuckerhülle die Durchlässigkeit der Blut-Hirn-Schranke erhöhen und damit das Gehirn anfälliger für Schäden machen.

Die Glykokalyx ist die Außenmembran von Zellen. Die halbdurchlässige Schicht besteht aus Zuckerresten, die an Membranproteinen sowie an Lipiden (Fetten) hängen.

„Dies ist wie die Landung auf einem neuen Planeten“, beschreibt Chemie-Nobelpreisträgerin Carolyn Bertozzi die Entdeckung. Ihre Arbeit über Zelloberflächenzucker bildete die Grundlage für die interdisziplinäre Studie.

Bisher übersehener Faktor der Gehirnalterung

Während sich die Neurowissenschaft lange Zeit auf Proteine und DNA konzentrierte, richteten die Forschenden ihren Blick auf Zuckerketten, die alle Zellen des Körpers umgeben. Die Studie, geleitet von Sophia Shi, Hauptautorin der Studie und Stanford Bio-X Graduate Fellow und Doktorandin in der Abteilung für Chemie, ergab, dass diese Zuckerstrukturen mit zunehmendem Alter abbauen – womöglich mit gravierenden Folgen.

Glykokalyxmessungen
Repräsentative Bilder von Kapillaren mit Glykokalyxmessungen von jungen, 3 Monate alten (oben) und 21 Monate alten Mäusen (unten), Maßstabsbalken = 1 µm. Bild: Shi et al. 2025

Shi veranschaulicht die Bedeutung der Glykokalyx folgendermaßen: „Die Glykokalyx ist wie ein Wald. In jungen, gesunden Gehirnen ist dieser Wald üppig und gedeiht. Aber in älteren Gehirnen wird er lichter, lückenhaft und baut ab.“ Diese Degeneration führt dazu, dass die Blut-Hirn-Schranke durchlässiger wird. Dadurch gelangen schädliche Moleküle ins Gehirn, was Entzündungen und kognitive Beeinträchtigungen begünstigt.

Wiederherstellung der Glykokalyx

Besonders bemerkenswert: Das Team konnte zeigen, dass eine künstliche Wiederherstellung der Glykokalyx die Integrität der Blut-Hirn-Schranke wieder stärkte, Entzündungen reduzierte und die kognitiven Fähigkeiten alter Mäuse verbesserte. „Die Modulation von Glykanen hat einen großen Einfluss auf das Gehirn – sowohl negativ bei der Alterung, wenn diese Zucker verloren gehen, als auch positiv, wenn sie wiederhergestellt werden“, so Shi. Die Erkenntnis könnte einen völlig neuen Weg zur Behandlung der Alterung des Gehirns und der damit verbundenen Krankheiten eröffnen.

Glykane sind Vielfachzucker (Polysaccharide), die eine große Bedeutung für die Zellgesundheit haben: Beispielsweise können Viren an Glykanstrukturen andocken. Veränderungen an Glykanen können aber auch Entzündungen hervorrufen.

Bertozzi erläutert: „In der Biologie geht es oft darum, an der richtigen Stelle zu suchen. Diese enorme strukturelle Veränderung in der Glykokalyx lag im Verborgenen, weil niemand zuvor daran gedacht hatte, sie zu untersuchen.“ Die Ergebnisse der Studie wurden in der Fachzeitschrift Nature veröffentlicht.

Zur Behandlung neurodegenerativer Erkrankungen

Die Forschung eröffnet einerseits neue Wege zur Bekämpfung des altersbedingten kognitiven Verfalls, andererseits könnten auch neue Behandlungen für Krankheiten wie Alzheimer entwickelt werden. Molekulare Mechanismen hinter den Veränderungen der Glykokalyx zu erkennen, könnte künftig dabei helfen, das Fortschreiten neurodegenerativer Erkrankungen zu verlangsamen oder sogar umzukehren, hofft Shi.

Shi plant, ihre Forschung weiter auszubauen. Sie möchte untersuchen, wie die Glykane im Gehirn mit Neurodegeneration zusammenhängen und ob sie als therapeutische Zielstrukturen genutzt werden können.

Bessere Medikamentenwirkung

Neben der Erforschung der Gehirnalterung und Neurodegeneration könnte die Studie auch bei der Entwicklung effektiverer Arzneimittel weiterhelfen. Die Blut-Hirn-Schranke stellt bislang eine massive Barriere für Medikamente dar, die neurologische Erkrankungen behandeln sollen. Eine gezielte Beeinflussung der Glykokalyx könnte Wege aufzeigen, wie Wirkstoffe besser ins Gehirn transportiert werden.

Die Forschung in Stanford hat damit ein neues Feld eröffnet, das sowohl für die Grundlagenwissenschaft als auch für die medizinische Praxis von großer Bedeutung sein könnte. Shi fasst zusammen: „Ich freue mich darauf, die Geheimnisse der Glykokalyx bei der Gehirnalterung und Neurodegeneration zu lüften und herauszufinden, wie wir ihr Potenzial zur Verbesserung der Gehirngesundheit nutzen können.“

Quellenhinweis:

Shi, S.M., Suh, R.J., Shon, D.J. et al. (2025): Glycocalyx dysregulation impairs blood–brain barrier in ageing and disease. Nature.